Pacific News #10

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Asiens Wachstumsmärkte in der Krise

Paul Blazek

Die dynamische Entwicklung der marktwirtschaftlich orientierten Länder Ost- und Südostasiens setzte zunehmend Maßstäbe. Allen voran konnte die Gruppe der Newly Industrializing Countries (NICs), der Singapur, Hongkong, Taiwan, Südkorea und Malaysia angehören, in den letzten drei Jahrzehnten beachtliche ökonomische Erfolge erzielen. Die Wachstumsdaten dieser Volkswirtschaften wurden weltweit als Vergleichskriterien für die eigene wirtschaftliche Entwicklung entdeckt und erfüllten oftmals bereits eine Vorbildfunktion. Die für Unternehmen günstigen Wirtschaftsbedingungen lockten durch ihre Kontinuität in zunehmender Zahl ausländische Investoren an, und kaum jemand erwartete ernsthafte Einbrüche des Aufwärtstrendes in den kommenden Dekaden. Doch die Asien-Euphorie erhielt unlängst einen kräftigen Dämpfer: In den zurückliegenden Monaten verloren die Ökonomien der Region ihre Stabilität, die Exportzuwächse sanken, die Defizite in den Handelsbilanzen stiegen auf Rekordhöhe, die Landeswährungen brachen zusammen, Firmengewinne sanken und die Immobilienmärkte erwiesen sich als aufgeblasen. Die Medien sprachen verblüfft von der “Hongkong-Grippe” und der “Übertragungsgefahr” auf Nachbarländer oder vom eingetretenen “Schneeball-Effekt” der wirtschaftlichen Krise in Thailand.
Auf einmal scheint das bisher so zuverlässig konstante Wachstum der NICs in Frage gestellt, und es droht eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation: Südostasien befindet sich in einer ernsten Krisenlage. Die Suche nach den Gründen für diese Entwicklung fördert ein komplexes Ursachengeflecht zutage. Die Erreichung und Sicherung eines (bedingungslos) hohen Wirtschaftswachstums war (und ist) das zentrale Zierl der staatlichen Wirtschaftspolitik der betroffenen Länder. Die Realisierung dieses Wachstums gelang durch exportorientierte Industrialisierung. Durch den massiven Ausbau industrieller Produktionsstrukturen förderten die Regierungen vielfältig den sektoralen Strukturwandel und versuchten eine international wettbewerbsfähige Industrie aufzubauen. Von der Weltmarktintegration wurden entscheidende Wachstumsimpulse erwartet. Die Strategie der Exportindustrialisierung war zweiphasig aufgebaut: In der ersten Phase brachten die Länder ihre Standortvorteile ein (vor allem das niedrige Lohnniveau) und konzentrierten sich auf arbeitsintensiv hergestellte Produkte des Konsumgüterbereichs. In der zweiten Phase folgte der technologisch-wirtschaftliche Wandel, und der Aufbau von Industriezweigen mit hoher Humankapital- und Technologieintensität wurde angestrebt. Eine wichtige Rolle in dieser Strategie kam den ausländischen Direktinvestitionen in der Region zu. Um die Attraktivität der Länder für diese Zielgruppen zu steigern, erfolgte eine (zu) enge Währungsbindung an den US-Dollar. Diese feste Dollar-Kopplung garantierte (einst) Währungsstabilität und schaffte die Vertrauensbasis für das folgende starke ausländische Engagement in Südostasien. Besonders Japan lagerte seine arbeitsintensiven Industrien aus und benutze die Region als verlängerte Werkbank, profitierte von der Stärke des Yen gegenüber dem Dollar. Doch der Dollar-Höhenflug der letzten zweieinhalb Jahre und die ausgeprägte Yen-Schwäche mit einer Abwertung um 50 Prozent haben den Standortvorteil der Region für japanische Unternehmen drastisch absinken lassen. Die Währungen waren überbewertet, die einst billigen Exporte nicht mehr weltmarktfähig. Die derzeitige Krise zeigt aber vor allem innerstaatliche Mißstände:
In vielen Ländern Asiens sind Staat und Wirtschaft unüberschaubar miteinander verwoben. Korruption und Vetternwirtschaft haben “epidemische” Ausmaße angenommen, Machtmißbrauch sowie moralischer Verfall greifen zunehmend um sich. Die Kontrolle des enorm expandierten Finanzsektors ist mangelhaft, und Krisen werden systematisch verschleppt.
Die gesellschaftlichen Disparitäten steigen. Kann man den Weltentwicklungsberichten zwar entnehmen, dass in den letzten Jahrzehnten ein überragender Rückgang der unter der “Armutsgrenze” Lebenden im statistischen Länderdurchschnitt stattgefunden hat, so zeigt die Realität große Ungleichgewichte bei der Ertragsverteilung und stellenweise eine Verschärfung der Armutsproblematik. Zudem führte die forcierte ökonomische Entwicklung zu einem Umbau der Gesellschaften. Die Beteiligung der früher überwiegend ländlichen Bevölkerung am Industrialisierungsprozess führte zu Migrationsbewegungen und Verstädterung.
Die Umwelt ist einer wachsenden Belastung ausgesetzt. Wachstum ohne Rücksicht auf Umweltschädigung ist immer noch viel zu häufig wirtschaftspolitische Maxime. In zehn von elf asiatischen Metropolen übersteigt die Luftverschmutzung die Richtwerte der Weltgesundheitsorganisation um das Dreifache. Ungekärt in Flüsse und Seen abgeleitete toxische Fabrikabwässer verseuchen die Wasserkörper zwanzig mal so stark wie in den westlichen Industrienationen.
Die Finanzkrise trifft die Länder Ost- und Südostasiens zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Viele Regierungen hatten begonnen, mit Hilfe von Entwicklungsprogrammen für ihre jeweiligen vernachlässigten und unterentwickelten Regionen sowie ansatzweise auch mit Umstrukturierungsprozessen ihrer Wirtschaft solide Fundamente für die zukünftige Entfaltung zu bauen. Nach Schätzungen der Weltbank söllten im asiatisch-pazifischen Wachstumsraum in den kommenden zehn Jahren allein Infrastruktur-Projekte in Höhe von rund 1,5 Billionen US-Dollar fällig werden. Doch die nun angespannte Haushaltslage der betroffenen Staaten wird zu gravierenden Einschränkungen bei der Verwirklichung der Planungskonzepte Führen. Interessant ist die Frage, welche Wirkung die Krise auf den ASEAN-Staaten-Verbund (Association of Southeast Asian Nations) haben wird. Die effektive Zusammenarbeit zur allseitigen Entwicklung, die im Gründungsdokument verankert ist, leidet unter dem zunehmenden Wettbewerb um die vorhandenen Ressourcen und Güterabsatzmärkte. Die früher proklamierte industrielle Kooperation ist bisher kaum verwirklicht worden, und die im Juli 1997 vollzogene Erweiterung auf neun Mitgliedsländer sollte zwar 30 Jahe nach Gründung der ASEAN Geschlossenheit und Gestaltungswillen demonstrieren, wird aber zum jetzigen Zeitpunkt im Spannungsfeld der in Bewegung geratenen Strukturen für weitere Brisanz sorgen. Die eher parallel als komplementär ausgestatteten Wirtschaften der Mitgliedsländer machen diese zu Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Ungekärte Fragen (z.B. Ölvorkommen im Meer, die von mehreren Mitgliedsländern beansprucht werden) könnten zu Auslösern für Konflikte werden. Auch eine Spaltungsgefahr der ASEAN-Länder wird zunehmend perzipiert.
Das selbstbewußt proklamierte “Pazifische Jahrhundert” scheint vorerst zumindest in Frage gestellt; die “Pazifische Herausforderung” entwickelt sich anders als von vielen erwartet. Ernüchterung macht sich breit, und schon spricht man von einer Ünberschätzung der asiatischen Wachstumsmärkte.